Angelika, 23 J., 1 Kind: Benny, 5 J.

Angelika kam über einen Nordstadtwirt in Kontakt zur Mitternachtsmission. Ihm war aufgefallen, dass sie mehrmals wöchentlich in seinem Lokal Männer anspricht, mit ihnen trinkt und mit ihnen gemeinsam fortgeht. Nach einer Weile wurde im Kreise der Gäste auch über sie geredet und es war allen klar, dass sie mit diesen Männern sexuellen Kontakt gegen Bezahlung hat.

Nach ein paar Monaten fällt auf, dass Angelika immer stärker trinkt, ungepflegt wirkt und oft auf der Toilette der Gastwirtschaft weint. Eines Nachts findet eine Angestellte sie dort blutend und halb bewusstlos.
Da Angelika sich weigert, ins Krankenhaus zu gehen, ruft der Gastwirt eine Mitarbeiterin der Mitternachtsmission an, die sofort kommt, Angelika von der Wichtigkeit einer ärztlichen Untersuchung überzeugt und sie mit dem Gastwirt zusammen ins Klinikum bringt. Dort wird festgestellt, dass Angelika eine Fehlgeburt hat. Sie wird behandelt und muss über Nacht dort bleiben. Sie sagt der Mitarbeiterin der Mitternachtsmission, dass ihr fünfjähriger Sohn Benny mit der 14jährigen Tochter der Nachbarin allein zu Hause ist. Das Mädchen muss morgens in die Schule und deren Mutter zur Arbeit. Benny wäre dann alleine. Die Mitarbeiterin der MM ruft eine Kollegin an, die sofort in Angelikas Wohnung geht, die Nachbarin und den Babysitter benachrichtigt, eine Tasche für das Krankenhaus zusammenstellt und dorthin bringt.

Eine Ehrenamtliche der Mitternachtsmission, selber Mutter von mehreren, schon erwachsenen Kindern, kommt morgens mit Lebensmitteln und versorgt Benny, liest ihm vor, räumt auf, wäscht die Wäsche und bezieht Angelikas Bett neu.
Angelika darf nachmittags das Krankenhaus verlassen und wird von einer Mitarbeiterin der MM abgeholt. Sie ist noch sehr schwach, möchte mit Benny zu ihrer Mutter und wird dorthin gebracht.
Nach einer Woche meldet sie sich bei der MM, bedankt sich und bittet um weitere Hilfe.

Sie hat große Probleme. Ihr Mann, der Vater von Benny, hat vor neun Monaten seine Arbeit verloren, hat Angelika verlassen und sie weiß nicht, wo er sich aufhält. Er ist Türke und Angelika nimmt an, dass er in seine Heimat zurück gekehrt ist oder auf Baustellen in unterschiedlichen Städten arbeitet. Sie hat seitdem kein Geld mehr für ihren Lebensunterhalt bekommen, die Miete ist seit Monaten nicht bezahlt worden und der Strom wurde schon zweimal abgestellt. Angelika ist zwar nach zwei Monaten zum Sozialamt gegangen, hat aber nicht genau verstanden, welche Unterlagen sie bringen muss, um Hilfe beantragen zu können und fühlte sich "abgewimmelt".

Durch eine Freundin, die das schon länger tut, begann sie daraufhin in der Kneipe „anschaffen“ zu gehen. Das dort verdiente Geld reicht gerade mal, um für Benny und sie Lebensmittel zu kaufen und den Babysitter für nachts zu zahlen.
Angelika weiß, dass sie ihre Wohnung verlieren wird und fürchtet, dass sie dann auf der Straße leben muss. Bei ihrer Mutter kann sie nicht ständig bleiben. Der Stiefvater mag sie nicht. Sie hat schon genaue Pläne, wie sie dann Benny und sich selbst umbringen wird.
Das alarmiert die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission natürlich. Sie schalten sich ein.Für die Mitternachtsmission ist die folgende Sozialarbeit Routine: die Versorgung mit den lebensnotwendigen Dingen, die Verhandlungen mit dem Sozialamt für die Sicherung der Wohnung, die Beantragung von Hilfe zum Lebensunterhalt, die Aufstellung der Gläubiger, die Schuldnerberatung. Wir finden einen Kindergartenplatz für Benny und versorgen ihn mit Kleidung und Spielzeug. Unsere Ehrenamtliche geht einmal die Woche mit ihm zum Blockflötenunterricht und manchmal sonntags mit ihm in einen Kinderfilm.

Schwerer ist es, mit Angelika die Ängste, die Scham, die Verlassenheits- und Schuldgefühle aufzuarbeiten und eine lebenswerte Perspektive zu finden.
Angelika ist tief verunsichert durch das, was ihr in den letzten Monaten passiert ist. Niemals hätte sie gedacht, dass sie sich prostituieren würde und vorher immer auf Frauen herabgeblickt, die so etwas tun. Sie hat in ihrer Situation keinen anderen Ausweg gesehen. Dann ist sie auch noch durch einen Prostitutionskunden schwanger geworden und hat versucht selbst mit Seifenlauge (das hatte sie in einem Buch gelesen) abzutreiben. Nach Wochen kam es dann tatsächlich zu einer Fehlgeburt.

Obwohl sie nun – sechs Monate später - mit Sozialhilfe lebt, ist sie zufrieden und froh. Hin und wieder hat sie noch Albträume von betrunkenen Männern, die sie in einer Garageneinfahrt befriedigen muss, damit sie morgens für Benny Milch und Obst kaufen kann und dann wacht sie weinend auf,- und manchmal muss sie sich übergeben.
Sie ist sehr froh, dass Benny zum Musikunterricht gehen kann und die Mitternachtsmission das aus Spenden bezahlt.

Angelika ist kein Einzelfall. Wir treffen im Rahmen der Kneipenprostitution viele Mädchen und Frauen mit ähnlichen Schicksalen an.
Die Väter ihrer Kinder sind verschwunden als sie von der Schwangerschaft hörten oder fühlten sich überfordert von den Bedürfnissen der kleinen Kinder. So blieben die Mütter allein zurück mit den Schwierigkeiten der Mittellosigkeit und den Gefühlen des Verlassenseins.

Es ist für die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission sehr schmerzlich zu wissen, dass immer wieder junge, unerfahrene Mütter keinen anderen Ausweg als die Prostitution sehen. Vielen ist nicht bekannt, dass sie ein Recht auf Unterstützung haben und sie kennen die Wege der Beantragung nicht.

Wir konnten Angelika helfen,- aber letztendlich ist das kaum unser Verdienst. Wir sind Profis und das ist unser Job. Dank gebührt vor allem dem griechischen Wirt der Nordstadtkneipe und der bulgarischen Bedienung, die Angelika nicht allein gelassen, sondern Hilfe geholt haben,- und unserer Ehrenamtlichen, die ohne jede Klage oder Bezahlung die Nacht und den Tag mit liebevoller Fürsorge für ein fremdes Kind und deren verzweifelter Mutter verbracht hat und weiterhin den Kontakt zu den beiden hält und eine verlässliche Kraft für die beiden geworden ist.

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